Bakhmaro / Georgien: Freeride-Eremiten beim Catskiing im Kaukasus

Bakhmaro/Georgien: Freeride-Eremiten beim Catskiing im Kaukasus

Auf 2.000 Meter Höhe mitten in den Bergketten des Kleinen Kaukasus thront das abgeschiedene Dorf Bakhmaro. Hohe Luftfeuchtigkeit und Tiefdruckgebiete vom nur 60 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden Schwarzen Meer sorgen für viel Niederschlag. Aufgrund von Schneefällen ist Bakhmaro von November bis April komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Man erreicht es nur über eine quälend lange Passstraße, die im harten georgischen Winter tief verschneit und ungeräumt ist. Kaum ein Georgier hat das Dorf je in der kalten Jahreszeit gesehen. Wir haben dort für mehrere Wochen überwintert und unser Freeride-Nirwana gefunden.

EIN PISTENBULLY ALS AUFSTIEGSHILFE UND GEORGISCHE TREESKI-TRÄUME IM WEISSEN SCHNEE VOM SCHWARZEN MEER

„Wir Schnee-Junkies und Freeride-Enthusiasten sind auf unsere ganz spezielle Art Patienten. Aber unsere Heilverfahren bezahlt keine Krankenkasse – noch nicht mal die Private.“

Selbst Psychoanalyse-Koryphäen wie Sigmund Freud oder C. G. Jung würden bei dem Versuch, unsere Manie nach bodenlosem Powder zu kurieren, die Therapieansätze ausgehen. Und nun sollte ich Suchtpatient in ein Bergdorf in Georgien reisen, das seit Ende des 19. Jahrhunderts auch bei anderen Patienten sehr beliebt ist: Menschen mit chronischen Erkrankungen der Atemwege, verschiedenen Arten von Tuberkulose, sekundärer Anämie und Neurasthenie. Klar, krank sind solche exotischen Freeride-Reisen in den weiten Osten irgendwie immer, aber im sogenannten Kleinen Kaukasus in der Region Gurien schien es sogar für mich eine Therapie zu geben. Dafür würde das spezielle Klima im Bergdörfchen Bakhmaro schon sorgen. Denn die kristallklare Gebirgsluft und die feuchtwarmen Luftmassen vom nur 60 Kilometer entfernt gelegenen Schwarzen Meer vermischen sich dort auf einzigartige Weise. 73 Prozent relative Luftfeuchtigkeit im Jahresdurchschnitt lassen nicht nur trockenen Tuberkulose-Husten geschmeidiger ausfallen, sondern auch jeden Powder-Puls höher schlagen. Spätestens nach dieser Erstinfo bei Wikipedia, wo auch zu lesen steht, dass die marode Passstraße jeden Kühler zum Kochen bringt und der fast 2.000 Meter hoch gelegene Kurort eine Jahreshälfte lang aufgrund von Schneefällen nicht zugänglich ist, dämmert dem Freeride-Patienten in mir, dass hier auch für mich Heilung zu holen ist – in Form von Schneefall satt.

Aber wie bin ich überhaupt auf das höchstgelegene Dorf Georgiens in der total abgeschiedenen Bergregion Guriens aufmerksam geworden? In der für mich relevanten Winterphase von November bis April ist das Dorf ja mangels Schneepflügen und schweren Räumgeräten sowie durch die Steigungen und Serpentinen der bis auf 2.050 Meter hinaufführenden 30 Kilometer langen Passstraße gar nicht erreichbar. Wer kommt auf die verrückte Idee, dort oben überwintern zu wollen? In einer Infrastruktur, die fast ausschließlich aus zugigen unbeheizten Holzhütten besteht, mit Plumpsklo-Toiletten im Vorgarten und einer Wasserversorgung, die sich aus einem Gartenschlauch-Gewirr mit Zugang zu nahegelegenen Quellen speist? Wie soll man sich dort oben bei Eiseskälte mit Wärme, Energie und Nahrungsmitteln versorgen? Nicht nur das Smartphone will ja betankt werden, damit man zur Not Kontakt mit der Außenwelt herstellen kann, sondern auch die alltäglichen Mahlzeiten und das Trocknen nasser Merino-Schlüpfer muss gesichert sein. Und zu guter Letzt – die Gretchenfrage: Wie will man in dem Terrain überhaupt Skifahren? Jenes ist freeride-technisch unbekannt, die umliegenden Gipfel lassen sich nur durch knackige Aufstiege erreichen und die fett verschneiten Bergflanken sind noch jungfräulicher als Johanna von Orléans unter ihrer Rüstung. Welcher Georgier sollte jemals – und vor allem wie – zur Winterzeit auf Ski in diese Höhen und dieses abgeschiedene Gelände vorgedrungen sein?

„All das Grübeln half nichts.“

Die Fragen die ich mir stellte, hatte jemand anders schon längst geklärt. Alles begann mit einer E-Mail, die mich im Herbst 2016 erreichte. Auf der info-Adresse von WhiteHearts, wo neben einigen ernstgemeinten Freeride-Anfragen sonst nur Werbemails aus der Zielgruppe „Rentner“ für Viagra, Cialis oder Levitra reinflattern, man mich mit Spezialpflastern von Hühneraugen-Schmerzen befreien möchte oder mit Online-24-Stunden-Krediten ködern will, weil auf meinen Konten vermutlich Ebbe herrscht. Aber neben Erektionsstörungen, entzündeten Zehen und schnellem Geld hatte sich da auch etwas mit dem Titel „Crowdfunding“ und „Catskiing Georgien“ in meinen Spam-Ordner verirrt:

red_bar

Hallo,

ich habe in Georgien vor, einen exklusiven Freeride-Spot für Powder-Enthusiasten zu entwickeln. Im schneereichen Bakhmaro habe ich eine Location für eine Testsaison mit einer Snow-Cat gefunden. Jetzt suche ich Partner die mitfahren wollen. Beteiligen kann man sich finanziell am Crowdfunding oder man bucht einen Gutschein für eine Reise. Wir brauchen mindestens 50 Freerider über den gesamten nächsten Winter, um laufende Kosten zu decken. Ihr könntet natürlich auch einen WhiteHearts-Trip mit bis zu zehn Leuten machen. Zu viele Freerider bedeuten zu viele Spuren. Das wird auf jeden Fall ein Abenteuer …

Ich freu mich über jede Art von Feedback.

Beste Grüße!

Ingo

„Ich mache den Abflug von Dortmund-Holzwickede.“

Vermutlich wird das die einzige Werbemail bleiben, die jemals Erfolg bei mir hatte. Am 15. Januar 2017 stehe ich tatsächlich in meiner Reise-Jogginghose am Airport Dortmund-Holzwickede. Zusammen mit fetten Powderplanken, umfangreicher Foto- und Filmausrüstung sowie meinem langjährigen WhiteHearts- und Freeride-Buddy Akki Bruchhausen und dem spontan akquirierten Drohnenfilmer Walter Schmid aus der Schweiz. Klar, der winzige Ruhrgebiets-Lokalflughafen hat bei mir Kultstatus, weil hier Szenen meines Lieblingsfilms „Bang Boom Bang“ gedreht wurden, aber ich hätte mir wirklich nie träumen lassen, dass ich von Dortmund aus mal den Abflug in den Schnee machen würde.

Am einzig geöffneten Check-in-Counter der ungarischen Airline WizzAir sind wir die einzigen Westeuropäer, die Richtung Georgien abheben – und auch die einzigen, die Ski-Bags als Sondergepäck aufgeben. Die restlichen etwa 150 Mitflieger sind nach dem Zwiebelprinzip verpackte Kaukasier, die alles, was sie an Kleidung dabei haben, am Körper tragen und statt Koffern lieber fett in Folie gehüllte Haushaltsgeräte wie Küchenmaschinen, Mixer oder Mikrowellen als Gepäckstück aufgeben. Während der angenehmen viereinhalb Flugstunden kommt mir in den Sinn, warum unser Trio sozusagen eine Vorhut ist. Mit dieser Erkundungstour soll abgeklärt werden, ob man „normalen“ Reisegästen so ein kaukasisches Powder-Abenteuer überhaupt zumuten kann. Denn im Herbst war es mir über unsere WhiteHearts-Netzwerke relativ schnell gelungen eine zehnköpfige Gruppe an Freeride-Enthusiasten zusammenzubekommen, die mitfahren wollten auf eine Pionier-Reise vom 12. bis 19. Februar 2017. Aber dann kamen mir erste Zweifel. Der Winter hatte in Georgien schon Anfang Dezember mit voller Wucht zugeschlagen. Eisige Temperaturen und ein einwöchiger Schneesturm mit gewaltigen Niederschlagsmengen schnitten ein hochgelegenes Dorf wie Bakhmaro und den Kleinen Kaukasus noch extremer von der Außenwelt ab als es in normalen Wintern schon der Fall ist. Ich stellte mir unter diesen Voraussetzungen eine zugige unbeheizte Holzhütte vor, spartanisches Essen, Sitzungen auf einem eisigen Außenklo mit kaputter Darmflora und eingefrorener Spülung, kein Warmwasser, keine Duschen, kein Strom, keine Telefonverbindung, keine funktionierende Rettungskette und womöglich ein altersschwaches Kettenfahrzeug sowjetischer Bauart, das Catskiing-Touren ohnehin nicht lange durchhalten würde.

 

Unsanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen und in den Anschnallgurt gedrückt als der Airbus A320 Fahrwerk und Landeklappen ausfährt und am Zielflughafen Kutaissi einschwebt. Durch die dreistündige Zeitverschiebung ist es inzwischen 01.00 Uhr und tiefste Nacht. In knackiger Kälte wanke ich zusammen mit meinen beiden Begleitern über eine Gangway von Bord und registriere keine weiteren Flugzeuge, aber glitzernde Schneefelder hinter der Landebahn. An der Zollkontrolle bekomme ich einen Stempel in den Pass und dann mit den Worten „Frohes Neues Jahr“ eine Flasche Rotwein in die Hand gedrückt. „Alkohol zur Begrüßung – was für ein großartiges Reiseland“, denke ich mir noch, aber da erblicke ich auch schon Ingo mit einem betagten Allrad-Geländewagen vor dem Terminal. Bisher kenne ich ihn ja nur virtuell und durch unseren E-Mail-Kontakt.

„Wie befährt man eine metertief verschneite Passstraße?“

Die übergewichtigen Ski-Bags werden auf den Dachgepäckträger gewuchtet und mit großer Kunst verzurrt. In den Innenraum des Nissan quetschen wir zuerst unsere Taschen und dann uns selbst. Ingo wirkt sofort sympathisch und gut organisiert – vor allem als er vorschlägt einen Stopp an einem georgischen 24-Stunden-Kiosk zu machen, um uns für die etwa zweistündige und 90 Kilometer lange Fahrt an den Fuß der Berge mit Flaschenbier und georgischer Käse-Calzone namens Chatschapuri einzudecken. Auf den unbeleuchteten Hauptstraßen Georgiens sehe ich in der allumfassenden Dunkelheit nicht viel. Ich spüre nur irgendwann die zunehmende Kurven-, Schlagloch- und Spurrillenquote sowie den Zugewinn an Höhenmetern. Dann heißt es „Umsteigen“. Übermüdet trete ich in Kälte, Gebirgsluft und knirschenden Schnee. Vor mir röhrt das Dieseltriebwerk eines knallroten Pistenbullys. Neben der Straße liegen einige hinter Schneewänden versunkene Bauernhäuser. Wege dorthin sind mühevoll aus dem Schnee geschaufelt. Auf der sich vor mir windenden Gebirgsstraße ist nichts mehr geschaufelt oder geräumt. Ich kann das Asphaltband unter der dicken Schneeauflage nur ahnen. Die Chance auf ein Weiterkommen gibt es hier nur per Motorschlitten oder mit einem schweren Kettenfahrzeug.

 

In die Heckkabine eines solchen steigen wir jetzt um. Ein PB 300 W Polar mit 430 PS – gebaut in Laupheim in Oberschwaben. Während sich das Gefährt zäh wie eine Lokomotive über zwei Stunden lang durch den Schnee kämpft, schwarze Dieselwolken in die sternenklare Nachtluft bläst und Serpentine um Serpentine erklimmt, denke ich darüber nach, dass Georgien ein Land der Berge ist, aber touristisch im Grunde unerschlossen. Die Gebirgsstraßen im Kleinen Kaukasus kann man an einer Hand abzählen und im Winter gibt es weder Räumgeräte oder Schneefräsen, noch irgendeine Art von organisiertem Straßendienst. Warum auch? Skisport ist hierzulande so exotisch wie bei uns Unterwasserrugby, Indiaca oder Rhönradfahren. Einer der wenigen hohen Pässe ist jener, den wir gerade unter die Ketten nehmen: die auf 2.050 Meter führende Bergstraße nach Bakhmaro. Niemand ist im Winter dort oben. Das Dorf liegt verborgen wie ein Adlernest zwischen verschneiten Bergen und dämmert verlassen im eisigen Dornröschenschlaf. Während der zweistündigen Auffahrt sehe ich rein gar nichts. Es ist stockdunkel, der Pistenbully hüllt alles rundherum mit aufgeworfenem Schnee ein und die Scheiben der frostigen Heckkabine, in der ich vor mir hinzittere, sind fingerdick vereist.

Die ganze Surrealität unseres Wintersportstandorts wird mir am nächsten Morgen in vollem Ausmaß klar, als ich nach dem Aufwachen aus meinem Schlafsack krieche, mir den Kopf an einem Dachbalken stoße, die Eisblumen vom Glasfenster meiner Hüttenkoje kratze und den Blick über die Landschaft schweifen lasse. Die Meskheti Range mit ihren beiden höchsten Gipfeln, dem 2.615 Meter hohen Lashispherdi und dem 2.755 Meter hohen Sakornia, glitzert in der Morgensonne und präsentiert ihre fett verschneiten weißen Flanken. Die umliegenden Tannenwälder ächzen unter enormen Schneelasten und überall im Gelände türmen sich riesige Pillows. Unerschlossenes Skiterrain so weit das Auge reicht. Verlockende Hänge, die darauf warten in den nächsten Tagen per Catskiing, mit Schneemobilen und auf Tourenski erklommen zu werden. Der ganze Ort und seine unzähligen pittoresken Holzhütten – alles ist total verlassen und liegt unter meterdicken Schneehauben begraben. Nur in zwei Hütten brennen Holzöfen und steigen Rauchsäulen aus den Kaminen. In einer davon hocken wir.

„Die Hütten hat der Bürgermeister vorgeschlagen und vermittelt.“

… erzählt mir Ingo bei einem unerwartet üppigen Frühstück, das aus Tee, Kaffee, selbstgebackenem Brot, Marmelade, Honig, Wurst, Tomaten, Gurken und Spiegelei besteht. „Eigentlich war nur die linke ursprünglich für mich gedacht. Meine Bedingung waren aber zwei Hütten nebeneinander, deshalb wurde der Nachbar kurzerhand überredet, mir seine Hütte auch noch zu vermieten“, so Ingo weiter. Wie wichtig die Überredungskünste des Bürgermeisters von Osurgeti auch für die Verpflegung waren, davon kann ich mich während der nächsten Tage in der linken Hütte überzeugen. Jene wird als Küchen-, Speise- und Lagerbereich genutzt. Hier ist das Reich des Ehepaares Boris und Eto Zaqradze, die auf besondere Empfehlung der Gemeinde für Ingo hier oben kochen und überwintern.

Boris ist von Beruf Koch, Eto Konditorin. Beide scheinen nie Pause zu machen, nur um Gästen auch in dieser totalen Bergeinsamkeit alle Varianten der unglaublich vielfältigen georgischen Küche zu präsentieren. Ihr Wirkungskreis ist Minimalismus pur: Ein etwa zehn Quadratmeter großer Raum mit klapprigen Schränken, einem Tisch, einem alten Propangas-Herd und einer verbeulten Spüle. Der Wasserzulauf ist eingefroren, Warmwasser wird in großen Kesseln auf dem holzgefeuerten, gusseisernen Ofen im Speiseraum erhitzt. Die spartanische Ausstattung hindert das Koch-Duo nicht daran tagtäglich ihre georgischen Gourmet-Ambitionen in die Tat umzusetzen. Dazu zählen mit Walnusspaste gefüllte Auberginen, Schaschlik in Zwiebelsud, Fisch in Mirabellensoße, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen namens Chinkali, Hühner-, Rindfleisch- und Rote-Bohnen-Suppen, diverse Salate und natürlich der selbstgebrannte Tresterschnaps namens Tschatscha. Oberstes georgisches Gastgeber-Credo lautet: Der Tisch muss immer prall mit Speisen gefüllt sein. Im Umkehrschluss haben Gäste so auch keine Chance zu signalisieren, dass sie zum Platzen satt sind. Ich frage mich ständig wie es alle diese Ingredienzen und Nahrungsmittel überhaupt hoch nach Bakhmaro geschafft haben und wie man sie unter solch simplen Bedingungen überhaupt zubereiten kann. Zumindest Kühlung ist kein Problem. Bei aktuell minus 22 Grad Celsius Außentemperatur brauchen Boris und Eto keine Gefriertruhen. Strom ist hier oben ohnehin ein Problem. Ganz Bakhmaro wird im Winter die abenteuerliche Zuleitung aus dem Tal gekappt. Über die unzähligen morschen Masten und durchhängenden Stahlkabel fließt dann keine Amperestunde mehr den Berg hoch. Auch diese Versorgungsproblematik hat Ingo gelöst. In einem Holzverschlag gegenüber der Wohnhütte wummern im Wechsel zwei dicke Stromgeneratoren. Diesel ist genug vorhanden, denn im Herbst wurde per Sattelschlepper ein komplett gefüllter 25.000-Liter-Tank auf der grünen Wiese aufgestellt. Der rostige Metallriese verschwindet mittlerweile im Schnee, versorgt aber zuverlässig den Pistenbully sowie Motorschlitten und Generatoren.

„Jeder Georgier ist der geborene Heimwerker.“

Ist mal was kaputt, wird es repariert. Dieses Heimwerker-Talent besitzen eigentlich alle Georgier. Aber Geno in besonderem Maße. Eigentlich arbeitet er unten im Tal in der Lachsforellenzucht seines Onkels. Ingo hat ihn als Allround-Handwerker, Hausmeister, Mechaniker und Motorschlittenfahrer angeheuert. Geno stopft die Öfen der Hütten rund um die Uhr mit Holzscheiten, er bastelt aus einem Durchlauferhitzer, ein paar Kunststoffrohren, einem Gartenschlauch und einer Propangasflasche eine Dusche, er peppt ein Plumpsklo mit Brettern und einem europäischen Keramiksitz auf und sorgt so für entspannte Darmentleerung oder er holt verirrte Freerider mit dem Motorschlitten irgendwo im Nirgendwo ab, wenn der Powder-Run doch in der falschen Senke endete oder der Pistenbully zuvor in einer Schneewehe stecken blieb.

Tja, der Pistenbully. Er ist das Herz dieser ganzen Freeride- und Catskiing-Unternehmung hier oben in der winterlichen Abgeschiedenheit auf 2.000 Metern Höhe. „Den habe ich bei einem Gebraucht-Pistenraupenhändler in Süddeutschland gekauft. Von dort ging er per LKW nach Georgien und wurde nach langen Zoll-Problemen und in seine Einzelteile zerlegt unten in Nabeghlavi abgeladen“, erinnert sich Ingo. Zu Saisonbeginn Anfang Dezember wurde der Bolide dann wieder komplett zusammengebaut und die in einer Werkstatt in Tiflis gefertigte Kabine hinten drauf montiert. Danach fuhr das Team damit hoch nach Bakhmaro. Schon damals rauschte so viel Schnee vom Himmel, dass die Fahrt fast einen halben Tag dauerte und zwei zusätzliche Schneemobile nur mühsam in der Spur hinterherfahren konnten.

„An der Schneesituation hat sich bis heute nichts geändert.

Als ich zum ersten Mal mit meinen Powderplanken und dem restlichen Equipment bewaffnet in der Kabine des PB 300 W Polar sitze und mich vom Piloten Aslan in die umliegenden Powderhänge bringen lasse, fühle ich mich wie auf einem gleißend weißen Winter-Planeten. Aslan kennt das. Er lebt im Sommer unten im Dorf Chakaura, aber ich habe den Eindruck er ist schon mit dem Steuerknüppel eines Pistenbullys in der Hand zur Welt gekommen. Jedenfalls hat Ingo mit ihm die Sechs im Lotto unter den georgischen Powder-Panzerfahrern erwischt. Kein Wunder, im Sommer fährt Aslan Lkw-Ungetüme durch den wilden Osten, wühlt mit Baggern im Gebirgsschlamm oder legt am Steuer einer Kettenraupe Forstwege in den Bergen an. Per Crash-Kurs und mit einem extra aus Österreich eingeflogenen Trainer hat er sich das Pistenbully-Fahren angeeignet. Mittlerweile rattert er so routiniert durch verschneite Landschaften wie seine schnauzbärtigen Kollegen auf dem Tuxer Gletscher. Mit dem Unterschied, das Aslan aktuell einige Ellen mehr Schnee vor der Schaufel hat.

Wie ich bei meinen ersten Powderturns feststellen kann, ist es wahrlich kein Mythos, dass im Kleinen Kaukasus überdurchschnittlich viel Niederschlag fällt. Westwinde pusten in den Wintermonaten zuverlässig Tiefausläufer über das Schwarze Meer und die Abkühlung in den direkt dahinter aufragenden Bergen sorgt in den Hochlagen für intensive Schneefälle. So auch jetzt. Frau Holles Flockenwirbel und meine eigenen staubenden Schwünge hüllen mich komplett ein. Die schon metertief im Schnee versunkenen Wälder verschwinden immer weiter im konturenlosen Weiß. Ich will mehr, immer mehr davon. Dieser nicht enden wollende Rausch ist hier schließlich nahezu unbegrenzt und nur für mich reserviert. Riden bis der Tank leer ist. Mein eigener und der des Pistenbullys.

„Treeskiing liebe ich seit eh und je, aber meine Catskiing-Erfahrungen sind bescheiden.“

Einmal wurde ich nachts stark alkoholisiert in der Kabine einer Pistenraupe auf eine Berghütte in Südtirol entführt, weil mein Kumpel Akki oben seinen Geburtstag feiern wollte, ein anderes Mal hing ich dick verpackt in einem Ackja an der Heckkupplung, weil ich mir bei einem unfreiwilligen Fels-Jump auf dem Gletscher in La Plagne das Brustbein gebrochen hatte. Vielleicht erklärt sich daraus, dass sich die Mitfahrt in einer Pistenraupe für mich immer extrem langwierig und kriechend langweilig angefühlt hat. Hier im Umfeld von Bakhmaro ist das völlig anders. Eine einzige Cat-Besatzung hat das komplette Skigebiet für sich allein. Es gibt keine Freeride-Konkurrenz und keinen Zeitdruck. Ein Playground aus perfektem Powder, in dem nur morgens entschieden werden muss in welcher Bergflanke und Himmelsrichtung man sich vormittags und nachmittags austoben will. Manche Hänge reichen einer kompletten Cat-Besatzung einen ganzen Tag lang für frische Lines. Und den finalen Feierabend signalisiert dann allabendlich sowieso immer nur der Einbruch der Dunkelheit.

Schon am ersten Tag kann ich einfach nicht lassen von diesem Treeskiing-Rausch. Wie authentisch ist das doch hier im Vergleich zu den Kirmes-Veranstaltungen in manchen Alpen-Orten. Und wie einsam. Nichts außer Winter und Natur. Dazu noch die Einmaligkeit überhaupt Treeruns in diesem Ausmaß zwischen 300 und 600 Höhenmetern Länge befahren zu können. In Österreich oder der Schweiz würde ich dafür vom Förster eine Ladung Schrot in den Allerwertesten gejagt bekommen. Hier jage ich selber – durch lichten Kiefern-Bergwald, knorrigen Ahorn oder japanisch anmutenden Buchenwald. Die meisten Einstiege erreicht man direkt mit Aslans Steuerkünsten, einige Grate und rückseitige Flanken erfordern etwa halb- bis einstündige Aufstiege mit Tourenski und Fellen. Das Terrain ist nicht extrem, aber extrem abwechslungsreich. Und extrem einsam.

„Wo gibt es schon das Privileg, Runs zu benennen, weil sie noch nie zuvor befahren wurden?“

Tagtäglich entstehen bei der Mittagspause oder abends beim Wodka so illustre Namen wie Faktor 30, Roadside, Powder-MILF, Peter North, Papara, Klein Usbekistan oder Japanese Forest. Trotzdem, was der Nachwelt überliefert werden muss, ist nicht der Name, sondern die Tatsache, dass der durchweg lichte Baumbestand hier ideal ist zum Freeriden. Viele Waldpassagen locken mit ansprechender Steilheit, überall finden sich fette Pillows und alles in allem verliert man sich einfach in spielerisch leichten Powder-Turns. Denn letztlich endet jeder Sturz in diesen fluffigen Massen wie in einem Daunenkissen. Nur das Kopfvoran-Stürzen, eingeblasene Hohlräume hinter Bäumen und sich auftuende Klüfte über zugeschneiten Bachbetten mahnen zur Vorsicht. Deshalb wird immer in Zweierteams gefahren und mit Hilfe von Walkie-Talkies besteht ständiger Funkkontakt. Unter der Oberfläche verschwinden oder im Wald abhanden kommen sollte man in Bakhmaros Wäldern nämlich nicht.

 

„Aber abhanden gekommen bin ich hier trotzdem.“

Aus der geplanten Erkundungswoche wurden insgesamt vier. Vier Wochen lang war jeder Tag in Bakhmaro für mich ein Powdertag. In einer einzigen Nacht gab es 50 Zentimeter Neuschnee und allein in der zweiten Februarwoche eine akkumulierte Schneemenge von über zwei Metern. Dementsprechend selten waren auch die Sonnenschein-Stunden. Innerhalb von vier Wochen nur zwei Bluebird-Tage, ansonsten hat es nahezu kontinuierlich geschneit. Ich wusste einfach, ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort bei einem einzigarten Projekt. Ich konnte nicht abreisen, verschob die Rückflüge immer wieder und ließ alles andere stehen und liegen. Volltreffer und volles Powder-Programm.

Leider mischt sich in diese Freude seit meiner Rückkehr auch die Angst, dass Bakhmaro von nun an im Winter nie mehr so sein wird wie es mal war. Der Schatz wurde gehoben und die Perle wurde entdeckt, fotografiert, gefilmt und beschrieben. Dieser Fluch lastet von nun an auf mir und allen anderen Catskiing-Eremiten im Kleinen Kaukasus …

Text: Dirk Wagener

Fotos: Dirk Wagener

Region

Georgien ist – inklusive Abchasien und Südossetien – flächenmäßig mit fast 70.000 Quadratkilometern so groß wie Bayern und mit insgesamt 3,7 Millionen Einwohnern eher dünn besiedelt. Das sehr gebirgige Land liegt zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer und wird im Norden vom Großen Kaukasus und im Süden von der Kette des Kleinen Kaukasus durchzogen. Höchster Berg ist der Schchara mit 5.068 Metern. Durch klimatische Wechselwirkungen sind die Winter im Gebirge sehr schneereich. Die Zeitverschiebung beträgt Weltzeit (UTC) + 4 h, also im Sommer zwei Stunden und im Winter drei Stunden vor der MEZ.

Skigebiete

Die Georgier haben das Wintersport-Potenzial ihres Landes erkannt und mittlerweile sogar einige Skistationen errichtet. Im Großen Kaukasus sind das Gudauri (bis 3.279 m, 11 Lifte) und Mestia/Tednuldi (bis 3.165 m, 4 Lifte). Im Kleinen Kaukasus Goderdzi Pass (bis 2.366 m, 2 Lifte) und Bakuriani (bis 2.672 m, 15 Lifte). Auch Heliski und Catskiing ist an einzelnen Orten möglich. Der im Text beschriebene Spot Bakhmaro ist im Winter bisher absolut unerschlossen und nur per Catskiing zu erreichen und zu befahren. Landesweit gibt es ein riesiges Potenzial und unzählige Möglichkeiten für Skitouren und Skibergsteigen.

Flüge

Georgien hat drei internationale Flughäfen: Tiflis im Osten, Kutaissi im Westen und Batumi am Schwarzen Meer. Etwa vier Stunden benötigt man ab Deutschland im Direktflug. Bester Flughafen für einen Trip nach Bakhmaro ist Kutaissi. Dorthin fliegen WizzAir oder Turkish Airlines zu sehr günstigen Preisen ab Dortmund, Memmingen und Berlin.

Essen

Die geografische Lage, zwischen Orient und Okzident, hat die Landesküche Georgiens stark geprägt. Sie galt in der Sowjetzeit als „Haute Cuisine der UdSSR“ und besticht durch ihre enorme Vielfalt. Gegrilltes Fleisch oder gebratener Fisch, fruchtige süßsaure Würzsoßen, Suppen und Eintöpfe und viele vegetarische und vegane Speisen. Nationalgericht sind die mit Fleisch und Brühe gefüllten Teigtaschen „Chinkali“ und die mit Käse belegten und anschließend im Ofen gebackenen Weißbrotfladen „Chatschapuri“. Zudem hat Georgien eine uralte Weinkultur und bezeichnet sich selbst als die Wiege des Weinbaus.

Mobilfunk

Handys und Mobilfunk sind in dem gebirgigen Land sehr wichtig. Das Netz funktioniert erstaunlich gut und man erhält zu geringen Preisen in Elektromärkten und Einkaufszentren Prepaid-Karten mit georgischen Nummern und Internet-Guthaben. In Bakhmaro musste allerdings zur Netzabdeckung über den Winter erst wieder der Sendemast auf einem 2.200 Meter hohen Berg aktiviert werden – mit einem Generator und einem 3.000-Liter-Dieseltank in einem Metall-Container.

Visum und Währung

Für Bürger aus EU-Staaten und der Schweiz ist kein Visum erforderlich. Für die Einreise reicht der Personalausweis. Die georgische Währung ist der Lari (GEL). Ein 1 Euro sind etwa 2,8 GEL. Es empfiehlt sich neben georgischem Geld auch Dollars oder Euros bei sich zu haben. Kreditkarten werden in abgelegenen Regionen nicht immer akzeptiert.

Catskiing Bakhmaro

Das Projekt im verlassenen Hochgebirgsdorf Bakhmaro zu überwintern und dort Freeriding per Catskiing zu ermöglichen, hat Ingo Schlutius auf die Beine gestellt. Er ist der eigentliche Powder-Pionier in Bakhmaros Bergen. Interessenten an Reisebuchungen oder an einem möglichen Crowdfunding können ihn direkt kontaktieren: www.powderproject.ch

„Wer viel besitzt, hat auch viel Gepäck.“

(Weisheit der mongolischen Nomaden)

 

„Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat,

sondern da, wo man verstanden wird.“

(C. Morgenstern)

 P.S.: Cat and Ski – Georgien is the place to be!

 

Georgien ist ein Land der Berge. Gerade mal vier Flugstunden von Deutschland entfernt. Die Menschen dort sind extrem gastfreundlich, die Preise schonen den Geldbeutel und das Wintersportpotenzial ist gewaltig. Man muss zwar etwas Pioniergeist besitzen und am besten mit einem geländegängigen Fahrzeug im Gebirge unterwegs sein, aber die Reise hinters Schwarze Meer in den Hohen oder Kleinen Kaukasus lohnt sich! Nicht nur für Freerider …

Gewaltige Schneelast auf Bakhmaros Hütten.

Schneekristalle reflektieren im Gegenlicht.

Staubender feinster georgischer Powder.

Typische Architektur rund um Bakhmaro.

Motorschlitten auf Um- und Abwegen.

Großartiger Sternenhimmel in totaler Abgeschiedenheit.

By continuing to use the site, you agree to the use of cookies. more information

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen